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Am Neujahrstage
Das Auge sinkt, die Sinne wollen scheiden:
"Fahr wohl, du altes Jahr, mit Freud und
Leiden!
Der Himmel schenkt ein neues, wenn er will."
So neigt der Mensch sein Haupt an Gottes Güte,
Die alte fällt, es keimt die neue Blüte
Aus Eis und Schnee, die Pflanze Gottes, still.
Die Nacht entflieht, der Schlaf den Augenlidern:
"Willkommen junger Tag mit deinen Brüdern!
Wo bist du denn, du liebes neues Jahr?"
Da steht es in des Morgenlichtes Prangen,
Es hat die ganze Erde rings umfangen,
Und schaut ihm in die Augen ernst und klar.
"Gegrüßt du Menschenherz mit
deinen Schwächen,
Du Herz voll Kraft und Reue und Gebrechen,
Ich bringe neue Prüfungszeit vom Herrn!"
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"Gegrüßt du neues Jahr mit deinen
Freuden,
Das Leben ist so süß, und wären's
Leiden,
Ach, alles nimmt man mit dem Leben gern!"
"O Menschenherz, wie ist dein Haus zerfallen!
Wie magst du doch, du Erbe jener Hallen,
Wie magst du wohnen in so wüstem Graus!«
"O neues Jahr, ich bin ja nie daheime!
Ein Wandersmann durchzieh' ich ferne Räume,
Es heißt wohl so, es ist doch nicht mein
Haus."
"O Menschenherz, was hast du denn zu treiben,
Daß du nicht kannst in deiner Heimat bleiben
Und halten sie bereit für deinen Herrn?"
"O neues Jahr, du mußt noch viel
erfahren;
Kennst du nicht Krieg und Seuchen und Gefahren?
Und meine liebsten Sorgen wohnen fern."
"O Menschenherz, kannst du denn alles zwingen?
Muß dir der Himmel Tau und Regen bringen?
Und öffnet sich die Erde deinem Wort?"
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"Ach nein! ich kann nur sehn und mich betrüben,
Es ist noch leider nach wie vor geblieben
Und geht die angewies'nen Wege fort."
"O tückisch Herz, du willst es nur
nicht sagen,
Die Welt hat ihre Zelte aufgeschlagen,
Drin labt sie dich mit ihrem Taumelwein."
"Der bittre Becher mag mich nicht erfreuen,
Sein Schaum heißt Sünde und sein
Trank Gereuen,
Zudem läßt mich die Sorge nie allein."
"Hör' an, o Herz, ich will es dir verkünden,
Willst du den Pfeil in seinem Fluge binden?
Du siehst sein Ziel nicht, hat er darum keins?"
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"Ich weiß es wohl, uns ist ein Tag
bereitet,
Da wird es klar, wie alles wohl geleitet,
Und all die tausend Ziele dennoch eins."
O Herz, du bist von Torheit ganz befangen!
Dies alles weißt du, und dir kann noch
bangen!
O böser Diener, treulos aller Pflicht!
Ein jeglich Ding füllt seinen Platz mit
Ehren,
Geht seinen Weg und läßt sich nimmer
stören,
Dein Gleichnis gibt es auf der Erde nicht!
Du hast den Frieden freventlich vertrieben!
Doch Gottes Gnad' ist grundlos wie sein Lieben,
O kehre heim in dein verödet Haus!
Kehr' heim in deine dunkle wüste Zelle,
Und wasche sie mit deinen Tränen helle
Und lüfte sie mit deinen Seufzern aus!
Und willst du treu die Blicke aufwärts
wenden,
So wird der Herr sein heilig Bild dir senden,
Daß du es hegst in Glauben und Vertraun,
Dann darf ich einst an deinem Kranze winden,
Und sollte dich das neue Jahr noch finden,
So mög' es in ein Gotteshäuslein schaun!
Annette von Droste-Hülshoff
(1797-1848) |