Katsushika Hokusai "Die
große Woge", aus der Serie der
36 Ansichten des Fudschijama
Farbholzschnitt, 246 x 362 mm, London, Victoria
and Albert Museum
The Great Wave Off Kanagawa From "Thirty-six
Views of Mount Fuji"
1823 - 1829 Color woodcut, Grande Onda
Bildbetrachtung/ Interpretation
Interpretation des Farbholzschnittes
"Die große Woge" von Katsushika Hokusai,
1825, aus der Folge der
36 Ansichten des Fudschijama von Inga Schnekenburger.
Der Text darf nicht ohne Genehmigung,
auch nicht auszugsweise, weiter veröffentlicht
werden. Anfragen an: inga@schnekenburger.de
1. Begriffsklärung
der Titel
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1.a) Die "Hauptperson"-
der Berg Fudschijama - im Hintergrund
Der Ober-Titel aller 36 Farbholzschnitte
ist dem Berg Fudschijama gewidmet.
Die Ansichten des Berges von verschiedenen
Standpunkten haben trotz unterschiedlicher
Vordergründe den Berg zum Zentrum.
Der Berg bedeutet in der fernöstlichen
Philosophie das Stillehalten. Der
Berg gehört zur Erde. Der Berg bedeutet
auch im übertragenen Sinn auf den
Menschen bezogen: der Körper. |
Aus dem Unter-Titel "Die
große Woge" geht hervor, dass
es sich um eine GROSSE Woge handelt.
1.b)
Keine Welle, wie sie ständig und immerzu
im Meer zu sehen ist.
Die große Woge steht
deshalb für einen Ausnahmezustand.
Die Woge gehört zum Element Wasser.
Das Wasser steht für das Abgründige,
für Gefahr. Das Wasser bedeutet im
übertragenen Sinn auf den Menschen
bezogen: die Seele.
Zusammenfassung Begriffskärung
Titel und Untertitel: Es geht erstens
um den Berg, der Körper und Stillehalten
bedeutet, und es geht zweitens um
Wasser, das Gefahr und die Seele bedeutet
bedeutet. Weil der Titel von der "großen"
Woge spricht, geht es hier um eine
große Gefahr, um ein gefährliches
Hindernis.
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2. Beschreibung
des Bildes
2.1. Was ist zu sehen? Wasser, Boote
mit Menschen, Berg und Himmel. Außer den
schon aus dem Titel hervorgegangenen (Woge
und Berg) sind der Himmel und Boote mit
Menschen zu sehen. Der Himmel bedeutet Das
Schöpferische, auf den Menschen bezogen
der Kopf, der Geist.
2.1.1. Eine große
Welle, mehrere kleinere Wellen.
2.1.2. in den Wellen
3 Boote mit Menschen. Im ersten Boot links
im Bild sieht man zwei Menschen sitzen.
Im zweiten Boot vorn im Bild sind 8 Menschen
zu erkennen. Im dritten Boot ebenfalls 8
Menschen und einige angedeutete Personen,
von denen man nur die Köpfe sieht.,
alle ähneln einander und tragen dieselbe
Kleidung.
2.1.3. Der Berg Fudschijama
im Hintergrund, schneebedeckt.

2.2. Wo befinden sich
die Inhalte?
a) Große Woge: links im Bild, nimmt
den größten Teil des Bildes ein. Man erkennt
das Ying-Yang- Symbol, aus Woge und Himmel
gebildet. Die Woge hat den Höhepunkt erreicht
und wird im nächsten Augenblick überschwappen.
b) Die Boote mit den Menschen
befinden sich unterhalb der Woge und
fahren auf die Woge zu - nicht von ihr weg.
c) der Berg befindet
sich nur optisch unterhalb der Woge: er
ist aber weit entfernt, ihm kann die Woge
nichts anhaben, er steht weit über dem Meeresspiegel
in sicherer Entfernung.
2.3. Welche Farben wurden benutzt ?
Da es sich bei dem Kunstwerk um einen
Farbholzschnitt handelt, bei dem für
jede Farbe eine eigene Platte geschnitten
werden muss, sind die Farben schon von der
Technik her reduziert. Weiß und Blau
dominieren, hinzu kommen Beigetöne.
Der Berg und die Wellen sind in den gleichen
Farben zu sehen, der Berg ist mit den Wellen
hier auf das engste verbunden. Die Form,
die Beschaffenheit (fester Berg aus Erde
und Stein, flüssige Welle aus Wasser)
sind hier wie aus einer Substanz - durch
die Farbe verbunden. Der Körper (Berg)
ist mit der Seele (Wasser) eng verbunden,
ja fast eins.
2.4 Formen
Die Form der Welle ist dominierend.
Aber die Formen, die sich aus der Gischt
der Welle bilden, sind stark betont. Die
Formen wirken wie greifende Hände,
gekrümmte Finger, sie greifen in Richtung
der Boote, zu den Menschen, die in den Booten
sitzen. Riesige Polypenhände, dämonisch.

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Wie Hände
oder Krallen greifen die Wellen zu...
diese große Woge ist getrennt
vom Himmel, die Form ist fast wie umrissen
und wiederholt sich mehrmals in blauen
Streifen. Diese aggressiven Formen treten
aber nur im linken Bildteil auf, nach
rechts werden die Formen sanfter, ruhiger.
Ganz rechts unten sogar fast still,
harmonisch. Darüberhinaus bilden
sich kreisförmige, runde Gebilde,
die genauso geformt sind wie die Köpfe
der Menschen. Viele haben die Größe
der menschlichen Köpfe, manche
sind kleiner. Einige der Schaumgebilde
sind sogar größer als die
Köpfe. Die Formen der Boote sind
schmal und spitz und flach. Die Menschen
haben genügend Platz in den Booten. |
3. Interpretation
Flüchten oder standhalten?
Gemeinsam die Gefahr besiegen (mit welchen
Mitteln auch immer) oder allein in Panik
untergehen? Die Menschen in den Booten haben
angesichts der vor Ihnen sich auftürmenden
drohenden Gefahr nur eine Chance, diese
Gefahr zu überstehen: Stillehalten.
Wer zappelt und in Panik gerät, der
fällt aus dem tragenden Boot. Steuern
ist nicht möglich, nur Hoffen, dass
alles gutgeht. Schicksal - dagegen kämpfen
ist sinnlos, mutlos werden und schwach werden
könnte tödlich sein, allein die
Gelassenheit und die Verbundenheit mit den
anderen, mit denen, die "im selben
Boot" sitzen, kann die Rettung bedeuten.
 |
Gelassen
sitzen sie da...
Die Gischt greift wie eine Hand ins
Boot.
Wir westliche Menschen
können dieses Bild vielleicht
schwer verstehen. Gelassenheit im
Angesicht der größten Gefahr?
Der Berg, der für den Körper
steht, der ist nicht in Gefahr - seltsam?
Die Seele, das Gefühl, das ist
die Gefahr. Was wir seelisch empfinden,
das ist sehr wichtig für unser
Überleben. Sinnloser Kampf reibt
auf, Gelassenheit trägt die Chance
in sich, Schreckliches heil zu überstehen.
|
Die Menschen auf dem Bild
schreien nicht, sind nicht in Panik, versuchen
nicht, das Boot an der Woge vorbeizusteuern,
sie fahren mitten hinein! Ein westlicher
Künstler hätte diese Szene sicher
ganz anders dargestellt: Kämpfende,
verzweifelte Schiffbrüchige, viele,
die nur an sich denken und die anderen schubsen
und ins Wasser stoßen... Auf diesem
Bild des großen Japaners sitzen die
Menschen angesichts der tödlichen Gefahr
still da.
 |
Das
obere Boot: Wie Schattenwesen im Vordergrund:
die Wellen
Die Köpfe sind
hier wie die Gischt: farblich und
formal. Die Menschen fühlen sich
eins mit ihrem Schicksal, aber in
der Hoffnung: wir werden es überstehen,
gemeinsam mit den anderen im Boot.
Nun sollten wir auf
das achten, was NICHT im Bild zu sehen
ist: Die Erde. Der Mensch lebt auf
der Erde, nicht auf dem Wasser. Die
Erde ist nirgends zu sehen. Wir kennen
das Gefühl, "als wenn die
Erde unter den Füßen weggezogen
wird", so fühlen sich die
Menschen in den Booten wahrscheinlich.
|
Der Ausgang ist offen. Die
Menschen können vielleicht ihrem Schicksal
entgehen, vielleicht auch nicht. Die Menschen
auf diesem Bild haben einen weisen Weg gewählt:
den Weg der Gelassenheit und des gemeinsamen
Abwartens.

Die Männer im Boot
unten, eng aneinandergelehnt.
|
Das Wasser
(die große Woge) ist oben, der
Berg ist (optisch im Bild) unten.
Dafür gibt es im Buch der Wandlungen,
im I Ging, ein Zeichen, das Zeichen
Nr. 39. im Zeichen 39 ist Gen (der
Berg) unten, und Kan, das Wasser,
oben.
Nr. 39 DAS HEMMNIS
GIEN
Oben ist Kan, das Abgründige,
das Wasser, unten ist Gen, das Stillehalten,
der Berg.
"...so ist man
von Hemmnissen umgeben. Aber in der
Eigenschaft des Berges, stillezuhalten,
liegt auch ein gleichzeitig ein Fingerzeig,
wie man aus den Hemmnissen herauskommen
kann. Das Zeichen stellt Hemmnisse
dar, die im Lauf der Zeit sich einstellen,
die aber überwunden werden können
und sollen. Daher ist die ganze Auskunft
darauf gerichtet, die Hemmnisse zu
überwinden." (Richard Wilhelm)
Das obere Kernzeichen,
das im Zeichen 39 vorhanden ist, heißt
Li, das Feuer, die Schönheit,
das Auge. Das untere Kernzeichen ist
wie das obere Hauptzeichen Kan, das
Abgründige, die Gefahr, das Wasser,
das Ohr. Das Zeichen KAN kommt also
zweimal vor: auch deshalb handelt
es sich um eine doppelte, große
Gefahr.
Das Gegenteil des Zeichens
Nr. 39 (d.h. wenn man alle LInien
in ihr Gegenteil verkehrt) ist das
Zeichen Nr. 38, KUI, der Gegensatz. |
Zusammenfassung

Dieses beeindruckende Kunstwerk schildert
eine Gefahrensituation. Die beteiligten
Menschen bleiben angesichts des gewaltigen
Hindernisses, der großen Woge, gelassen
und halten zusammen. Trotz dieses Themas
ist das Bild von Schönheit erfüllt.
Nicht die Angst der Menschen steht im
Vordergrund, sondern die gewaltige Natur
in ihrer bedrohlichen Schönheit.
Es ist ein Bild, über das man nachdenken
und meditieren kann. Besonders hilfreich
ist die Betrachtung dieses Bildes angesichts
eigener, ausweglos erscheinender Lebenssituationen.
Das Bild erzählt von Hoffnung, nicht
von Kampf. Und weil nicht ein einzelner
Mensch dargestellt ist, sondern eine Gruppe,
erzählt es auch von Gemeinschaft
mit anderen Menschen.
Das Zeichen Nr. 39 GIEN - das Hemmnis
- (im chinesischen Buch der Wandlungen)
könnte ein Grundgedanke des Bildes
sein. Da aber ein Zeichen bis zu 6 Sonderbedeutungen
haben kann, soll der verehrte Leser selbst
entscheiden, um welche genauere Bedeutung
es sich handeln könnte. Die Grundbedeutung
des Bildes und die des Zeichens GIEN scheinen
sich jedoch zu decken.
Anmerkung:
Diese Interpretation ist als
Anregung gedacht, ein Bild, das in Japan
entstanden ist, mit anderen Mitteln als
im Westen üblich zu betrachten. Dadurch
können wir eventuell östliche
Bilder besser verstehen. Eine Biographie
über Hokusai und weitere Kunstwerke
von ihm finden Sie im Computergarten
am 23. Oktober.
Inga Schnekenburger
Die Bildbetrachtung wurde
geschrieben am 30. Oktober 2000, überarbeitet
und im Internet erstmals veröffentlicht
am 19. Mai 2001, Buchempfehlungen hinzugefügt
im Jahr 2003.
Buchtipps
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I
Ging. Das Buch der Wandlungen.
von Richard. Wilhelm. Gebundene
Ausgabe - 644 Seiten - Diederichs
Andere Ausgaben: Broschiert
Hokusai.
von Gian Carlo Calza. Sprache:
Englisch.
Gebundene Ausgabe - 520 Seiten.
Phaidon Press 2003
Literaturhinweis
I Ging Das Buch der Wandlungen.
Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf,
Köln
Aus dem Chinesischen übertragen
und erläutert von Richard
Wilhelm
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Linktipps
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